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Ljudmila Ulitzkaja. Eine Seuche in der Stadt

 

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Verlag

Es ist Pandemiezeit, man bleibt besser zu Hause. Ljudmila Ulitzkaja nutzt die Zeit zum Aufräumen alter Papiere. Da fällt ihr ein Manuskript von 1978 in die Hände, „Tschuma“, heißt es , „Die Pest“ - ein Pestausbruch in Moskau, der dank einer dichten Schweigemauer und des extrem effizienten NKWD nahezu unbekannt geblieben. Der Vater einer Freundin war als Pathologe an den Ereignissen beteiligt – er erzählte davon...und Ulitzkaja als interessierte Genetikerin nahm den Stoff auf, entwarf ein „Szenario“ und bewarb sich damit für einen Drehbuchkurs. Der Text verschwand in der Schublade – bis sie ihn wieder entdeckte, sehr zeit-gerecht, überaus aktuell. Da aber gerade Camus' „Pest“ ständig gedruckt wurde, bekam Ulitzkajas „Tschuma“ den Titel „Eine Seuche in der Stadt“; sehr zutreffend und mit dem Wort „Seuche“ dicht an der drohenden Moskauer Katastrophe. Karl Schlögel hat in „Traum und Terror“ die Jahre 1938/39 in der UDSSR mit ihren alptraumhaften Prozessen und Säuberungen beschrieben. „Schwarze Raben“, die Verhaftungswagen des NKWD fuhren zu vielen Adressen, zu denen der schon Infizierten und zu denen der bald Inhaftierten. Die Prozess-Schatten fallen auch in die Pestbekämpfung. Was war geschehen? Ein Forscher hatte sich, irritiert durch einen Anruf, der ihn nach Moskau beorderte, unversehens angesteckt, war auf der Reise vielen Menschen begegnet, in Moskau mit Kollegen Gespräche geführt, erkrankte augenfällig und allen Beteiligten war klar: Pest! Mit unvorstellbarer Rasanz geschieht nun eine Totalabsperrung, sämtliche denkbare Quarantänemaßnahmen werden ergriffen, die Kontaktverfolgung des Infizierten vollzieht sich mit dem NKWD-Apparat perfekt und hocheffizient. Spätestens jetzt ist es unmöglich, beim Lesen zu unterbrechen. Dann tritt auch ein „Sehr mächtiger Mann mit georgischem Akzent“ auf, der kabarettreif sagt: „Gut! Wir helfen. Bei den Listen und auch bei der Liquidierung'. Der Volkskommissar erstarrt. 'Nein, nein, es geht nur um Quarantäne. Nicht um Liquidierung'“ Es gibt groteske wie beklemmende Szenen. Der vollständige Staatsapparat wird vorgeführt, noch immer ein Alptraum. Es gibt Helden, Bösewichte und Ungerührte. Der Text ist keine Blaupause für heute, dennoch geben wir Ljudmila Ulitzkaja das Schlusswort „Die Welt verändert sich auf unvorhersehbare Weise, und ich hoffe, dass diese neue Prüfung...uns nicht noch weiter voneinander trennt, uns nicht noch egoistischer macht, sondern im Gegenteil zu der Ansicht führt, dass es in der globalisierten Welt zu viel Hass und Brutalität gibt und zu wenig Solidarität und Mitgefühl. Das aber hängt von uns ab.“ Helmut Ruppel

112 Seiten
18 Euro