Shelly Kupferberg. Isidor, Ein jüdisches Leben

Diogenes Verlag
„Mein Urgroßonkel war ein Dandy. Sein Name war Isidor. Oder Innozenz. Oder Ignaz. Eigentlich aber hieß er Israel...er war eigensinnig und voller Stolz...wie sonst hätte er sich aus Lokutni bei Tłumacz, Tłumacz bei Kolomea, Kolomea bei Lemberg ganz nach oben hangeln können? Bis zu dem Tag, als Menschen ausgelöscht werden sollten...“ Menschen mit Eigensinn begegnet man häufig in heutigen Büchern – weil sie seltener werden? Shelly Kupferberg, in Berlin lebhaft engagiert in der medial-kulturellen Öffentlichkeit, hat den weisen Satz der jüdischen Tradition „Die Kette der Generationen darf nicht reißen“ wahr gemacht und ist in die Familiengeschichte eingedrungen, mit liebevoller, auch vorm Schrecken nicht kapitulierenden Detektivinnenarbeit. Die führt sie nach Tel Aviv (zum Hängeboden in der großelterlichen Wohnung, wo die Kartons mit alten Briefen liegen...) und nach Wien in diverse Archive mit verwunderlichen Quellen, die bringt sie zu Studien und biographischen Rekonstruktionen im Geäst der verzweigten Familie. Eine wichtige Rolle nimmt auch ihr Großvater, der Historiker Walter Grab, ein. An dieser Stelle musste ich die Lektüre abbrechen, denn ich habe Walter Grab in einem langen Gespräch kennengelernt und wusste damals nichts von seiner Geschichte. Unser Gespräch ging um „frühe Demokraten“, sein Spezialgebiet. Ich erinnere mich, dass er in Nikolaus Lenaus Gedichten politische Spuren witterte, was mir völlig neu war. Nach einer gehörigen Scham-Pause las ich weiter...
Shelly Kupferberg liest gegenwärtig an vielen Orten, gibt auskunftsreich Interviews und hat mit ihrem Band einen unvergleichlichen weiteren Baustein zu ihrem Untertitel hinzugefügt: „Ein jüdisches Leben.“ Wie so oft erzählt ein Witz auf mehreren Ebenen mehr als viele Erzählungen vom Durchkommen. Einer aus der Freundschaft Isidors macht sich auf den Weg aus der Sowjetunion nach Amerika:und der Grenzbeamte fragt ihn, was das für eine Büste sei, die er mit sich trage. Darauf korrigiert ihn der Jude: „Nicht was ist das, sondern wer ist das? Lenin!“ Der Grenzbeamte ist entzückt und beeindruckt von so viel politischem Rückgrat und wünscht dem Juden viel Glück im Exil. Als dieser in die USA einreist und auch dort vom Zollbeamten befragt wird, wer denn das sei, den diese Büste darstelle, korrigiert der Jude: „Nicht wer das ist, sondern::Was ist das? Sei die richtige Frage, und die Antwort dazu laute: Platin!“
Shelly Kupferberg erzählt Geschichte in Geschichten. Am Ende besucht sie Isidors Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof und sieht dort Rehe und Hasen, die drumherum grasen. Und ist entzückt, bis sie erfährt, dass Jäger sie auch erlegen; ein Bild für die Gebrochenheit dieser Welt. Unbedingt sehen, unbedingt lesen! Helmut Ruppel
240 Seiten
24 €