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Gertud Leutenegger. Späte Gäste

Suhrkamp Verlag
 
Es entzieht sich rascher Wahrnehmung, prompt nachvollziehendem, auch sympathetischem Einverständnis. Mir kamen als Annäherung nur die unbestimmt-wilden Töne, Spiele und Bilder der Schweizer Fasnachts-Traditionen in den Sinn, zum Beispiel die Luzerner Guugenmusig, ein wahres Dämonium an Masken, Gewändern und Musiken mit ihren dumpftrommelnden und schrillschmerzenden Klängen. Dem Höllenschlund entstiegen, ziehen fürchterliche Blechbläser, Tubaröhrer, Piccoloflötenschriller, Trompetenbläser und wirre Dudelsackpfeifer durch die nächtliche Finsternis. Ihr Clou liegt darin, die erwartbaren Töne virtuos zu verpassen, exakt daneben zu tönen und mit immer neuen Anläufen in dräuender Klangfülle schmerzlich am Rand vorbei zu spielen.
Ein wenig von dieser vernebelnden Unfassbarkeit, dominanten Undeutlichkeit, exakten Unschärfe, sensiblen Verschwommenheit liegt über dem Buch: Die Erzählerin kehrt in ihre Heimat – so beklemmend wie vertraut – an der schweizerisch-italienischen Grenze im Tessin zurück, um Orion – Ehemann, Freund, Vater ihres Kindes, Lebensgefährte? - zur letzten Ruhe zu geleiten - unruhig war er ein Leben lang. Sie sucht das vertraut unverschlossene, aber menschenleere alte Hotel auf und eine Nacht der Erscheinungen hebt an, in der, der Fasnacht gleich, eine Fülle seltsamer Figuren auftauchen, darunter Flüchtlinge, die auf überfüllten Schlauchbooten sich an die Küste Siziliens retteten und sich jetzt im unwegsamen Zwischen-Grenzgebiet sammeln, die „späten Gäste“...
Alles spielt in einem Grenzgebiet zwischen den Ländern, den Erinnerungen, zwischen Tag und Nacht, Wachsein und Schlaf. Orion - sein Leben entschwebt und bleibt schwer entzifferbar.
„Es dunkelt schon, als ich den ovalen Platz unter den Bäumen betrete, nichts rührt sich. In der Tiefe liegt über der Lombardei ein von diffusen Lichtern erhellter Nebelschleier...“
Vielleicht noch bei Christa Wolf gibt es diese Aufforderung, sich einzulassen auf die Erzählerin, ihr Nachdenken und Erinnern, sich selbst dem Leben auszusetzen mit seinen karnevalesken Zügen, mitzudenken beim inneren Gespräch. „Jahre vergehen, und die Zeit heilt nichts. Sie macht uns nur mutig, unsere Erschütterungen zu tragen.“ Ein Buch, „zwischen den Jahren“ zu lesen.... Helmut Ruppel

175 Seiten
22 Euro