Lena Gorelik. Wer wir sind

Rowohlt Verlag Hamburg
Sie hat den Literaturpreis „Text & Sprache“ vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft verliehen bekommen (SZ am 16. Juni). In der Begründung heißt es, sie sei mit ihrer Familie „als russisch-jüdischer Kontingentflüchtling“ eingewandert und musste sich „schreibend mit ihrer doppelten Identität auseinandersetzen.“ Eine delikate Begründung: Was ist eigentlich “russisch-jüdisch“? „Eingewandert“? ein Wort voller Unter-, Bei- und Nebentönen – man sieht die einwandernden Ostjuden, die Habenichtse. Zum „Einwandern“ nur so viel: Am 2. Mai 1992 um 23.55 h besteigt die Familie Gorelik auf dem Bahnhof der 5-Millionen-Großstadt St. Petersburg (damals noch Leningrad) den Zug, der sie nach einigen Windungen ins schwäbische Ludwigsburg brachte. Die Mutter mit einem summa cum laude Examen, frühere Leiterin einer Fabrik, der Vater mit Diplomen und Examina, die Tochter mit exzellenten Zeugnissen, die Großmutter mit einem Jiddisch, das dem Schwäbischen so gleich klang … Und nun beginnt dies Leben ohne Zugehörigkeit, mit der Suche der Mutter nach Putzstellen und dem rasanten Aufstieg der Tochter durchs deutsche Gymnasium in dieser zum Verzweifeln geeigneten Sprache, der ihr den hässlichen Titel „Streberin“ einbringt, wofür es im Russischen kein Wort gibt. Die deutsche Sprache … “Etwas hat zu sein“ - wer auf dieser Welt kann das begreifen? Und überall dies: „Lernen Sie doch erst einmal richtig Deutsch!“
„Wer wir sind“ - Auskunft über uns, Selbstporträt im Familiengedächtnis, Information über uns, die Anderen, narrative Visitenkarte, Einblickgabe in ein fremdes Leben. Lena Goreliks Buch mag man nicht aus der Hand geben, so hereinziehend, Anteil gebend ist es verfasst in dem Bemühen, zugehörig zu werden. Wenn man aus einem Land kommt, in dem das Wort „Ich“ der letzte Buchstabe im Alphabet ist. Die Lektüre ermöglicht viele Begründungen für viele hoffentlich hoch dotierte Preise! Helmut Ruppel
422 Seiten
22 Euro