Claudio Magris. Gekrümmte Zeit in Krems. Erzählungen

Aus dem Italienischen von Anna Leube
Hanser Verlag München
Zwei Juden beraten über Orte, die sie zur Emigration wählen könnten – Chile ? Schanghai ?
Bei Schanghai sagt einer: „Das ist aber furchtbar weit!“ sagt der andere: „Weit von wo?“
Mit diesem Titel „Weit von wo?“ trat Claudio Magris in mein Büchergedächtnis und hat es nie mehr verlassen. In seinem lebenslangen Stammcafé San Marco in Triest, eine der heimlichen Hauptstädte der habsburgischen Doppelmonarchie, traf ich ihn nicht, den Professor für Deutsche Literatur mit Gastprofessuren in der ganzen Welt, auch an der FU Berlin. Nun hat er, Jahrgang '39, fünf Erzählungen vorgelegt, die natürlich von ihm, vom Alter handeln. „Er stieg aus dem Bus und hielt sich dabei am Haltegriff fest, bis sein Fuß vorsichtig den Asphalt berührte.“ Er ist vorsichtig geworden, körperlich, aber auch sozial und diskret. Die Erzählungen sind so nebenbei, so zufällig, so melancholisch, mit übergehängtem Jackett, so wohltuend unambitioniert, so absolut gewiss, dass Literatur die Welt nicht retten kann, so philantropisch ironisch, so altersmilde gutgelaunt, dass man nicht aufhören kann zuzuhören. Da ist er angekommen mit 82 Jahren, dass er sagen kann: „Nun war die Welt ein Hund, der ihn nicht beißen konnte, sondern mit ihm herumtobte und spielte.“
Die Zeit spielt eine große Rolle, wie die Titelgeschichte andeutet. Es ist ihm, als gerate er in ein „unendliches Präsens“. Fast genau in der Mitte des Buches heißt es einmal „Wann also ist jetzt?“ Verglichen mit zwei anderen „Alters“-Schriftstellern, Martin Walser und Max Frisch, bleibt Magris beim Erzählen. Er leistet sich nicht die fröhlich narzisstische Enthemmung Walsers und die Eitelkeit Frischs ist ihm fremd. Vielleicht hat ihm dabei Triest geholfen mit seiner Internationalität? In einer Erzählung wird ein berühmter Kafka-Experte nach einem Vortrag von einer Zuhörerin mit der Behauptung konfrontiert, er habe zu Schulzeiten eine intensive Beziehung zum schönsten Mädchen der Schule gehabt, sie sei jetzt ihre Freundin und habe sie en detail in Kenntnis gesetzt. Der Kafka-Experte erinnert sich an nichts, an gar nichts. Doch irgendwie stellt sich sehr langsam heraus, dass die Verbindung nachträglich wahr ist oder wird? Die Zeiten verschieben sich ...
Ein aus Polen eingewanderter Jude nannte Mussolini immer „Mojschele“ und befahl dem Sohn, die Faschisten ordentlich zu grüßen: „Hejb die Hand, meschuggener!“ In Triest kommen viele Menschen von weither zusammen; es gibt viel zu erzählen. Helmut Ruppel
93 Seiten
20 Euro