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Aharon Appelfeld. Sommernächte

Rowohlt Verlag

Sommernächte werden kommen und sind schon da, wiewohl die Horizonte der Gegenwart an alles andere zu denken zwingen als verblühende und sich wieder aufrichtende Rosen und im Dunkel der Nacht zu Boden fallende Äpfel ...
Appelfelds Buch erschien in Israel 2015 und brauchte sieben Jahre bis zu uns. Ob wir es in einem glücklichen Sinne seinem Tod 2018 zu verdanken haben? Es ist das Buch eines sehr alten Mannes, der sich seiner frühen Kindheit erinnert, des letzten Sommers seiner Kindheit. Er streift als kleiner Landstreicher an der Hand des Großvaters auf der Flucht vor allen Schrecken des Krieges und des Judenhasses durch die Wälder seiner ukrainischen Heimat – für Appelfeld das prägende Lebensthema.
In dem berührenden Erzählband „Meine Eltern“ (2019) malte er uns das Bild seiner Kindheit in den Ferien am ukrainischen Prut, der durch die Bukowina fließt, in der nach Paul Celan „Bücher und Menschen“ leben. Rose Ausländer, Paul Celan, Gregor von Rezzori, Selma Meerbaum-Eisinger haben ihn rauschen hören. Noch heute hängt neben der Tür zu Rose Ausländers früherem kleinen Elternhäuschen an einer abschüssigen Straße in Czernowitz hinab zum Prut eine gesplitterte Glasscheibe mit einem erinnernden Wort Ausländers über die grünen Fluten des Prut. Die Sommernächte sind sehr ruhig, leise, kaum mehr zu hören, schon still. Die Gespräche der beiden knapp, fast tonlos, „kam ein Wort“ (Celan), durchbrach es die Stille. Die Wälder haben ihre Geräusche, die Tiere sind stumm. Sprechen die beiden mitunter, geht es um Träume, die Eltern, Gott und die tägliche Sorge um etwas zu essen.
Der Erzählstil Appelfelds ist völlig zurückgenommen, er nähert sich den stillsten Geschichten der Bibel. Manchmal sagt der Alte: „Janek, lies einen Psalm!“ Der fragt: „Welchen?“ Und der Alte erwidert: „Ist gleich. Alle sind gut“. Das Buch ist kein „Alterswerk“, das ist falsche Einbandsprache.
Mit dem Buch ist ein Endpunkt erreicht ... Für den Elfjährigen hat das Leben noch nicht begonnen. Es verfügt über Stille, eine zu sich gekommene elementare Ruhe. Manchmal glaubt man, der Autor hat vergessen, dass es ein Buch werden sollte, er wiederholt sich: Hat er das vor ein paar Seiten nicht schon mal erzählt? Aber da regiert eine große Gegenbewegung zu Lärm, Tempo, Aufregung und hohler Dramatik. Ein Junge und ein alter Mann in Freundschaft und Nähe in der sommernächtlichen Welt der Wälder, mal ein Satz über Gott, mal ein Wort über den Krieg, und wieder Weiterziehen ...
Nein! Nicht melancholisch, geschweige denn depressiv! Ruhig, gefasst und gefestigt, von Psalmen gestärkt, von Güte ermutigt, kurz - was Literatur kann und soll, ist wunderbar zu erleben - das Leben verstehen und der Barbarei widerstehen!
Dank an Aharon Appelfeld und sein Lebenswerk! Dies Erzählen aus und über die Ukraine stärkt die Verbundenheit mit den vielen Stimmen, die im Raketenhagel zu verstummen drohen …
Helmut Ruppel

221 Seiten
22 Euro