Gunilla Palmstierna-Weiss. Eine europäische Frau

Aus dem Schwedischen von Jana Hellberg
Verbrecher Verlag
„Europäisch“ ist ihr Leben von Anfang an: In Lausanne geboren (1928), aufgewachsen unter anhaltender Verfolgung in Schweden, Deutschland und Holland, später führten Reisen und Arbeitsaufenthalte nach Frankreich und Italien, darüber hinaus nach Nordvietnam, Mexiko, Kuba und in die USA. Wir hören und erleben eine Frau mit dem unbedingten Willen zur künstlerischen Praxis; ihre Heirat mit dem Autor Peter Weiss führt sie in eine Arbeitsehe, die ihr weitere ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Ich kenne nicht den Stand der Brecht-Forschung, was den Anteil vieler Gefährtinnen an seinem Werk betrifft, der Anteil Gunilla Palmstiernas an Weiss' dramatischem Werk ist gänzlich unerforscht, wobei die Keramikerin, Bühnenbildnerin, Maskenbildnerin, Malerin und Autorin viel Sichtbares (rund 80 Seiten Bilder im Buch!) beigetragen hat, so wie sie es zu Ingmar Bergmanns, Agnes Vardas und vielen anderen Arbeiten auch getan hat. Die FAZ eröffnet ihren Nachruf quasi offenen Mundes, so hat die 880-Personen-Liste am Buchausgang verblüfft. Das heißt aber nicht, der Respekt wäre ihr für Arbeit gezollt worden: Die Berliner Schaubühne nennt im Programmheft zu Weiss' Sade/Marat nicht ihren Namen (das Direktorium soll gerührt gelächelt haben), der Suhrkamp-Chef Unseld ließ bei einem vom Ehepaar gemeinsam verfassten Buch ihren Namen einfach weg. Es ist schlechterdings unfassbar, was man sich ihr gegenüber (nur ihr?) an Demütigungen, an Nichtanerkennung geleistet hat. Vor uns liegt nicht das Buch einer Autorenwitwe! Es ist die Lebensgeschichte einer vielseitigen Künstlerin, die mit den Größten ihrer Zeit weltweit zusammengearbeitet hat, die mit ihrer emotionalen Intelligenz und ihrer bewundernswert politisch-feministischen Trotzkraft ein Porträt des Zivilisationsbruches in Europa erzählt, lakonisch-heiter und empathisch zugleich, wenn sie von den geriebenen Möhren erzählt, die ihr Samuel Becketts Frau in Paris liebevoll angeboten hat … Wollte man im Stil sowjetischer Panorama-Bilder (Tübkes Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen!) ein Europa-Panorama herstellen, sie wäre die Erste, die hätte gebeten werden können. Sie ist im Alter von 94 Jahren im Herbst 2022 in Stockholm gestorben. Stockholm? Angesichts des Wahlsieges der rechtsnationalen „Schwedendemokraten“ (was die Sprache an Perversionen zulässt ...) war sie nicht sicher, ob denn Schweden noch ihre Heimat sei … Von der Rosa-Luxemburg-Stiftung bis zur FAZ, vom ND bis zur SZ standen alle auf, als sie gestorben war, und zogen den Hut – es galt, sich vor einer „Europäischen Frau“ zu verneigen. Das kann man nun mit der Wahrnehmung ihres großen, dem Wortsinn gerecht werdenden „Bildungsromans“ tun. Ein Buch wie ein Stein. Ein Gedenkstein. Helmut Ruppel
600 Seiten
39.00 €