Andreas Maier. Die Heimat

Suhrkamp Verlag
In meiner Schulzeit hieß das Fach „Heimatkunde“, heute heißt es „Sachkunde“, und damit ist das Problem benannt. Das Problem „Heimat“ - anheimelnd wie fürchterlich. Die Heimat des Autors ist die Wetterau, gesprochen „Wetter-au !“… Klingt das nach Schmerz oder nach Freude ? „Was oder wo ist die Wetterau?“, fragt der Nichthesse. „Irgendwie nördlich von Frankfurt“ - wo ist das denn?
In Berlin leben viele Menschen, die hierher gekommen sind, weil sie nicht länger „irgendwie nördlich von ...“ leben wollten. Für viele Lesende in Berlin kann „Die Heimat“ das große Buch des Erinnerns, der aufdämmernden Vergegenwärtigung, der vielleicht seufzend-aufatmenden, der vielleicht heiteren Rekonstruktion der eigenen frühen Lebensgeschichte werden. „Was hat mich hierher gebracht?“ „Von wo bin ich denn gekommen? Ein glänzend gelungenes Zwischen-Bilanz-Buch – selbst wenn die neue Adresse in Berlin-Süd „Heimat“ heißt … Und wie nebenbei kann es eine höchst eigene 40jährige Mentalitätsgeschichte „BRD“ im eigenen Kopf in Gang setzen. Da kommt einer aus Ostfriesland und eine aus Sachsen, schlägt das Buch auf und sinnt darüber nach, wie war das in Aurich oder in Markkleeberg? Andreas Maier arbeitet an einem auf zehn Bände angelegten Zyklus mit dem Klage-Titel „Ortsumgehung“. Klage? Ja, früher baute man Wege und Straßen von Ort zu Ort, heute baut man „Ortsumgehungsstraßen“. Und ebenso hat er bisher acht Bände Umgehungsarbeit vorgelegt: „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“, „Der Kreis“, „Die Universität“, „Die Familie“ und „Die Städte“, nun: „Die Heimat“. Dieser Band ist Edgar Reitz gewidmet, der das 60stündige Filmepos „Heimat“ geschaffen hat; gleichermaßen zu empfehlen für lange früh dunkelnde Herbsttage … Maier umgeht letzten Endes doch die Örtlichkeit, er teilt das Buch in Jahrzehnte: Die Siebziger, die Achtziger, die Neunziger und die Nuller-Erfahrungen, Essays und notierte Schocks bilden den Text.Da gibt es völlig neu die Fremden, die Türken, die Russland-Deutschen, da gibt es plötzlich die NPD im Rathaus, da gibt es Fests „Hitler“-Film, ein Film wird gezeigt, in dem Menschen in einen kahlen Raum geführt werden und plötzlich Gas eingelassen wird, da kommen die Ostdeutschen und eine Fahrt nach Meißen ist möglich, und so ruckeln die Jahre in Fernsehbildern dahin. Alles hat uns geprägt und unendlich viel mehr, auch Unsagbares und Unsägliches. Im Epilog trifft der Autor auf Straßenarbeiter, die seine Fragen nicht verstehen, weil sie arbeiten müssen an der Umgehungsstraße: „Also machen wir weiter, kommt, Jungs! Mal was arbeiten!“ Es geht immer weiter, Altes wird umgangen ... Es gibt moderne Versionen vom alten „Lesekränzchen“ - da gehört das Buch hin, in den erinnerungslösenden Austausch der eigenen Biographien: So haben wir gelebt! „Sprich, Erinnerung, sprich“, nannte Nabokov seine Erinnerungen. „Rede, Erinnerung, rede!“, Andreas Maier zeigt schon einmal wie das gehen könnte. Mit den Seiten entwickelt sich der Band zu einem Spiegel der eigenen Erinnerungen – spart teure Honorare für langes Liegen auf der Couch und beschert Wehmut, vorübergehenden Schrecken, lächelndes Kopfschütteln und literarisches Vergnügen! So erstaunlich wie nutzbringend! Helmut Ruppel
245 Seiten
22€