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Irena Veisaitė und Aurimas Švedas. Ein Jahrhundertleben in Litauen

Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig
Wallstein Verlag

Der Wilnaer Historiker Švedas führte 13 Gespräche mit der kulturell politischen Stimme Litauens, Irena Veisaité, die jeweils schöne Titel haben - „Die Überlebenden haben die Pflicht zu vergeben und die Zukunft aufzubauen“ oder „Die Arbeit war für mich eine Mission.“ Persönliche Bilder sind eingestreut und am Ende steht ein Text „Anstelle eines Epilogs“ mit dem sympathischen Eingeständnis: „Mir kommen immer mehr Fragen – und immer weniger Antworten.“ Um es vorweg zu sagen: Das Buch ist so spannend geschrieben, dass es unmöglich erscheint, nur einmal eine Pause einzulegen. Irena Veisaité hat zwischen dem 9. Januar 1928 und dem 11. Dezember 1920 ein Jahrhundertleben geführt, das alles in sich aufgenommen hat, was dieses Jahrhundert geprägt hat – gleich einem langen Fries der wichtigsten Ereignisse in Bildern, einem Gobelin gleich, dem die historischen Umstürze und Wellen, Abgründe und Aufbrüche eingewoben sind. „Überleben, um zu erzählen“, diese Intention verbindet sie mit Ruth Klüger, die zwei Monate vor ihr starb. Dem Wallstein Verlag verdanken wir: Zwei Zeuginnen des Jahrhunderts, deren Lebensgeschichten einen unverkennbaren Trotz, einen unbändigen Willen zum Unbesänftigtsein aufweisen angesichts der Aufgaben zu erinnern, zu erzählen, zu bezeugen, was geschah. Das Kindheits- und Jugendkapitel - „Das Leben sollte klar sein“ erzählt vom frühen unlösbaren Verflochtensein in eine jüdische und litauische Herkunft. Bei einer Reise mit dem Vater nach Berlin, verweist er sie auf die öffentlichen Bänke mit rassistischem Sitzverbot und schärft ihr ein, Platz zu nehmen, obwohl sie „litauische“ Papiere hatten, die nichts von ihrem Judentum sagten – eine unvergessliche Erfahrung. Das Literaturhaus Berlin zeigt im Internet ein Gespräch Irena Veisaites mit Aleida Assmann und der Übersetzerin Claudia Sinnig, der wir viele Entdeckungen litauischer Literatur verdanken, in dem diese Jugenderfahrung zeichenhaft für ein ganzes Leben steht. Aleida Assmann stellt diese Szene vor das ganze Leben: Sie lebe in einem „Erinnerungsexil“, wen interessiere jüdisches Leben in Litauen...? Mit dem Einmarsch von Wehrmacht und SS in Litauen im Juni 1941 musste sie mit Tante und Großeltern ins Ghetto Kaunas umsiedeln. Die schwerkranke Mutter gab ihr in der Klinik den letzten Lebensratschlag: Sie solle selbstständig sein, mit der Wahrheit leben und nie Rache üben. Nun liegen dies intensiven Erinnerungen einer Frau vor, die mit 13 Jahren in der Untergrundschule im Kaunaer Ghetto Schillers Balladen lernte, unter der Diktatur der SS bis zum Umfallen Zwangsarbeit verrichten musste, als Studentin über Heinrich Heine promovierte und mit den Jahren sieben Sprachen sprach. Sie überlebte nach der Flucht aus dem Ghetto im Schutz einer litauischen Familie, die sie mit der Zeit als Familienmitglied anerkannte – sie sprach ohne jiddischen Akzent. Nach dem Sommer '44 kam die „zweite Besetzung“, aber auch die Befreiung zum Leben und Lernen. Um sie kümmerte sich niemand, es gab ausschließlich sowjetische Opfer des Faschismus. Sie studiert in Moskau und Vilnius und lehrt alsbald Literatur und Theatergeschichte. Im Jahr der Unabhängigkeit ist  62 Jahre, hat zwei Diktaturen überlebt und hat Mühen, die zwei Geschichten zu erzählen: Die der Kollaboration von Teilen des Volkes mit Nazi deutschland und der Zeit unter Sowjetherrschaft. Es war ihr immer wichtig festzuhalten, wie zerbrechlich Moral, Kultur und Menschlichkeit sein können, droht ihnen die politische Macht. Sieht man die Seiten „Lebensdaten“ durch, fragt man, welche Auszeichnung, welchen Orden und welche Ehrung sie nicht erhalten hat; doch hört man ihr zu, ist die größte Ehrung, ihr zuzuhören, ein „Jahrhundertleben in Litauen“ wahrzunehmen. Helmut Ruppel

428 Seiten
24€