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Adriana Altaras. Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante

Kiepenheuer & Witsch Verlag

Bei allem Nachfragen in Freundschaft und Verwandtschaft - „eigensinnig“ kam sehr schlecht weg!
Es wohnte nahe bei „schwierig“, „komplex“, fast „unsozial“, eben „trotzig“ - dabei ist Tante Jele, die 99jährig in einem Altersheim bei Mantua lebt und mit der die 60jährige auch vom Leben geplagte Autorin in Berlin so oft aufs Lebhafteste telefoniert, um alle Klippen, Fallen, Nöte, Beschwerden und Glücksfälle zu bereden, eine so aufsässig-unverwüstliche, so schrill wie weise Dame, mit eigenem Sinn, dass man nicht ablassen kann, ihr zuzuhören. Warum sie nicht nach Deutschland zieht, wo doch ihre Nichte ihr näher ist und sie umsorgen könnte? Das jüdische Altersheim ist ihr zu russisch, im deutschen Heim fehlen ihr die Juden, und kochen tun alle schlechter als die Italiener! Sie ist eben - eigensinnig. Deshalb: Meglio soli, che male accompagnati! Adriana Altaras Eltern werden in ihrer Heimatstadt Zagreb antisemitisch verleumdet und aus der jugoslawischen KP verdrängt, fliehen nach Italien und von dort nach Deutschland. Die vierjährige Adriana wird von ihrer kinderlosen Tante über die Grenze geschmuggelt, bleibt zunächst bei ihr und wechselt erst später nach Deutschland, wo ihre Eltern die Jüdische Gemeinde Gießen gegründet haben. Aber diese Jahre mit der eigensinnigen Tante, die die Spanische Grippe, die Shoah, das KZ und eine norditalienisch-katholische Schwiegermutter eigensinnig überlebt, sind die prägenden Jahre ihres Lebens: „Sie musste mich nicht erziehen, denn sie war nicht meine Mutter. Ich musste ihr nicht widersprechen, denn sie war nicht meine Mutter!“. Zu ihr wird sie immer wieder zurückkehren, sie, Schauspielerin, Regisseurin, Autorin, mit ihr die Übel des Lebens und der Welt austauschen. Und daraus ist ein Buch geworden, ohne jegliche Erzählstruktur, aber in der Bauart von „Schnitt und Gegenschnitt“, einmal erzählt die Nichte, einmal die Tante. Es ist in meiner Lese-Erfahrung das mündlichste Buch, das ich kenne, als habe sie an ihren erzählenden Bewusstseinsstrom einen Schreibcomputer angeschlossen. Sollte man die These ausrufen: „Besser mit einem Buch allein, als in schlechter Gesellschaft!“ Es ist im höchsten Maße erstaunlich, wie ein ganzes Jahrhundert im Schlagabtausch von Klage, Trost, Widerspruch, Anfrage, Verhör, Bekenntnis, Lob, Kummer und Aufatmen zweier Menschen vor Ohren und Augen entsteht – nicht zu vergessen, mit einer Reihe nachdenklicher Witze. Eine Frau geht zum Rabbiner. „Rabbi, ich habe den Wunsch, ewig zu leben.“ „Heirate“, sagt der Rabbbiner. „Und werde ich dann ewig leben?“ „Nein, aber der Wunsch wird vergehen.“
Die Bibel kennt nicht das Wort „Schicksal“, bis zum letzten Atemzug ist nichts entschieden, „Schicksal“? Die Bibel kennt „Stärke des Herzens“, Aufrichten nach dem Schlag, Wege finden, sich nicht als Opfer verstehen, innere Robustheit, im Rückblick das Leben neu deuten, an Träumen festhalten, Trotzkraft – davon erzählt das Buch. Und es endet jüdisch: „Alles ist gut. Ich verzeihe dir, G'tt.“ Helmut Ruppel

224 Seiten
22.00 €